Ebenso wie es sich bei unserem Gedächtnis, dessen wir niemals Herr sind, anstelle einer kalkulierbaren Fähigkeit viel mehr um eine Form der Vorstellungskraft handelt, könnten die Dinge, die wir sehen, verglichen mit unseren Erinnerungen und dem in unseren Gedanken geformten Bild von ihnen meist nicht unterschiedlicher sein. Und dieses Bild, das wir uns formen, beschreibt unsere Wahrnehmung der Welt, sehr viel mehr als die offensichtlichen äußeren Eindrücke, die unsere Sinne aufnehmen.
In der Einleitung seines Werkes “Reise um den Tag in 80 Welten” beschreibt Julio Cortázar die Enttäuschung vieler Kritiker von den Bühnenbildern des Balletts von Stravinski „Petrushka“, obwohl das Stück doch Jahre später erneut von dem Ballettensemble Ballets Russes aufgeführt wurde, und wie wenig die Proteste von Bakst darüber nützten (der die Bühnenbilder erneut übermalen musste, um die Farbtöne hervorzuheben), dass es doch genau dieselben seien, perfekt erhalten, ohne objektiv gesehen irgendeine ihrer strahlenden farblichen Qualitäten verloren zu haben. Darüber hinaus erzählt der argentinische Schriftsteller hier eine Anekdote, die auf erstaunliche Weise eben diesen Fall illustriert und von einer seiner Reisen durch Griechenland handelt.
Einen Monat vor seiner Abreise hatte ihm ein Freund die Wegstrecke von Athen nach Kap Sounion beschrieben, was angeblich das Ziel von Cortázar war, wohl nicht unbedingt, um den Tempel Poseidons an sich zu bewundern, sondern viel mehr den Namen Lord Byrons, den dieser höchstpersönlich in den Stein des Tempels geritzt hat. Als sich Cortázar aus der Hauptstadt Griechenlands auf denselben Weg machte, schien jedoch alles etwas anders als es ihm sein Bekannter beschrieben hatte. Dieser hatte ihm von einem staubigen Platz erzählt, an dem man sich sehr früh einfinden sollte, um noch einen Sitzplatz im Bus zu ergattern, einem heruntergekommenen Fahrzeug, das inmitten der Straße geparkt warten würde, in der Nähe der Stände der Pistazienverkäufer, vom Schatten der Bäume vor der Sonne geschützt. Cortázar stellte jedoch fest, dass zum einen noch reichlich freie Plätze in dem Bus waren (und dieser zwar veraltet war, jedoch nicht in dem Maße, wie es ihm sein Freund bildlich beschrieben hatte), und er zum anderen an einer Ecke des Platzes geparkt war. Darüber hinaus glänzten sowohl die Bäume wie auch der viele Staub und die Pistazienverkäufer durch Abwesenheit. Jedoch schien die ursprüngliche Beschreibung seines Bekannten das Bild, das Cortázar von jener Begebenheit in Erinnerung behalten sollte, für immer und ewig geprägt zu haben, denn als er nach Paris zurückkehrte und einem anderen Freund von diesem Abschnitt seines Urlaubes in Griechenland berichtete, war er selbst davon überrascht, dass er den Platz und den Bus so in Erinnerung behalten hatte (und vor sich sah), wie er es sich damals vorgestellt hatte, als er zum ersten Mal davon erzählt bekam.
Auf ähnliche Weise behauptet Pamuk, dass die von westlichen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts veröffentlichten überstürzten und erfundenen Texte ein Bild von Istanbul formten, welches später von den in Istanbul lebenden Autoren selbst weiterentwickelt wurde. Das Bild einer Stadt, die so unberechenbar, willkürlich, unvorhersehbar und literarisch sei wie die Rauchwolken der Schornsteine der Dampfschiffe am Himmel über dem Bosporus. Eben dieselben Dampfschiffe, oder zumindest ähnlich denen, die damals jene Schriftsteller aus dem Westen in die Stadt brachten, die der junge Pamuk immer und immer wieder zu malen versuchte.
Kein Gehirn ist nun mal eine Tabula rasa und dementsprechend ist es unvermeidbar, dass der Reisende, der sich appartments in Istanbul in Istanbul mietet, bei seiner Ankunft bereits ein vorgefertigtes Bild der Stadt im Kopf hat. Es ist jedoch zweifelhaft, dass irgendeines dieser Bilder den wirklichen Kontrast dieses wundervollen und vielfältigen Ortes übertreffen könnte.